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Stegreifrede

Stellen Sie sich folgende Situation vor. Sie sind an Ihrem Arbeitsplatz eingetroffen. Kurz vor dem entscheidenden Meeting über den Fortgang ihres Projektes werden Sie von Ihrem Chef gebeten, die Präsentation zu übernehmen. Der zuständige Mitarbeiter ist leider kurzfristig erkrankt. Was passiert jetzt? Die Bitte Ihres Chefs schlägt ein wie eine Bombe. Tausend Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf. Sie haben zwei Möglichkeiten. Sie versuchen noch aus der Nummer heraus zu kommen. Oder Sie stellen sich der Herausforderung.

 

Was sagen Sie, wenn Sie sich auf so eine Situation vorbereiten könnten?

 

Aus dem Stegreif?

 

Laut Wikipedia ist Stegreif eine veraltete Bezeichnung für den Steigbügel eines Reiters. Gebräuchlich ist das Wort nur noch in der Redewendung „aus dem Stegreif“ und in Komposita wie Stegreifaufgabe, Stegreifentwurf, Stegreifkomödie, Stegreifrede, Stegreifspiel, Stegreiftheater und Stegreifübersetzung. Ein „Stegreif“ ist ursprünglich also eine Seilschlinge, die man zum Aufsteigen benutzte. „Aus dem Stegreif“ bedeutet wörtlich: ohne vom Pferd zu steigen, im übertragenen Sinn: ohne lang nachzudenken, unvorbereitet, extemporiert, improvisiert.„Stegreif“ hieß außerdem ein Bauteil der mittelalterlichen Armbrust, das den Ladevorgang vereinfachte: ein steigbügelähnlicher Metallbügel am vorderen Ende der Waffe, in den der Schütze einen Fuß setzte und so die Hände frei hatte, um die Sehne zu spannen. Da die Herkunft des Wortes weithin unbekannt ist, wird „Stegreif“ – passend zu den ähnlichen Redewendungen „aus dem Stand“ und „aus der Luft gegriffen“... (https://de.wikipedia.org/wiki/Stegreif).

 

Die Stegreifrede!

 

Eine Rede ohne Vorbereitung wird als Stegreifrede bezeichnet. Anders ausgedrückt eine Spontanrede. Selbst vor Menschen zu reden ohne Vorbereitung, kann uns alltäglich passieren. Wenn wir bisher mit Reden vor Menschen wenig zu tun hatten, wirkt die Bitte umso stärker. Unsere Reaktionen sind Hektik, Panik, Schockstarre, Flucht, Nervosität, Unruhe und Streß.

 

Die erste Überlegung ist meistens, wie komme ich aus der Nummer heraus. Mir wird auf einmal schlecht und ich fahre zum Arzt. Das nimmt uns keiner ab.

Ich gehe einfach nicht zum Meeting. Auch keine gute Idee. Die Reaktion des Chefs wird nicht lange auf sich warten lassen.

Das Schneckenhaus ist in dem Fall keine empfehlenswerte Reaktion.

Wir sollten uns der Situation stellen.

 

Auf solche spontanen Redesituationen können wir uns in einem gewissen Maße vorbereiten. Richtig, auch wenn sich das im ersten Augenblick unmöglich anhört. Wir sind sicher nicht explizit direkt auf eine spontane Frage oder Bitte vorbereitet. Wir können uns jedoch mit verschiedenen rhetorischen Tools auf so eine Situation vorbereiten. Damit wir nicht völlig nackt dastehen. Politikerinnen und Politiker stehen oft vor solchen Situationen. Die richtige Reaktion hat mit rhetorischen Fertigkeiten, Schlagfertigkeit und Fachwissen über die Themen zu tun. Je mehr wir in der Firma über unser Projekt oder im Verkauf über unser Produkt wissen, desto besser reagieren wir auf überraschende Situationen. Wenn wir die richtigen rhetorischen Tools im Köcher haben, meistern wir unvorbereitete Situationen umso besser.

 

Wie bereite ich mich auf eine Stegreifrede vor?

 

Wenn wir eine Bitte für eine spontane Präsentation oder Frage bekommen, sind wir erstmal überrascht. Die falsche Reaktion ist, gleich loszureden wie ein Wasserfall. Wenn uns z.B. ein Vorgesetzter eine unangenehme Frage stellt und wir unseren Wortschwall unkontrolliert an frische Luft setzen, sagen wir u.U. Sachen, die wir lieber nicht gesagt hätten.

Daher ist die wichtigste erste Reaktion: Zeit gewinnen.

Zeit gewinnen wir durch Pausen, Rückfragen, Verständnisfragen und z.B. durch eine Wiederholung der Bitte oder Frage. Wir verschaffen uns damit Zeit, um uns zu sammeln, zum nachdenken und überlegen. Gerade wenn wir durch einen Vorgesetzten ,,zur Rede" gestellt werden, sollten wir erst Zeit gewinnen, überlegen und dann reden. Wenn wir erst reden, kann das auch für uns nachteilig ausgehen. Ich bezeichne diese Situation gerne als Stegreifgespräch, wenn wir ,,zur Rede" gestellt werden.

 

Auch für die Stegreifrede selber ist das praktikabel, erst einmal Zeit zu gewinnen. In der weltweitvernetzten Rhetorikorganisation Toastmasters International gehören Stegreifreden zum alltäglichen Programm. Hier können Sie üben, üben, üben. Stegreifreden zu trainieren schult die Kreativität, Spontanität und Schlagfertigkeit. Zudem begegnen wir solchen unvorbereiteten und spontanen Situationen viel gelassener.

 

Struktur in der Stegreifrede

 

Wichtig ist aus meiner Sicht, die richtige Struktur parat zu haben. Wir alle wissen, dass eine Rede in Eröffnungsteil - Mittelteil - Schlussteil gegliedert werden soll. Damit sind unsere Zuhörerinnen und Zuhörer aufmerksamer, interessierter und der Spannungsbogen kommt besser zur Geltung. Für die Stegreifrede empfiehlt sich auch eine Struktur. Dann ist unser Gegenüber bei uns und wir verkaufen uns besser.

 

Eine einfache Struktur, mit der wir immer gut in der Stegreifrede beraten sind, ist Gestern - Heute - Morgen. Wir starten unsere Rede z.B. mit einem Ereignis in der Vergangenheit (Gestern). Als nächsten Punkt führen wir die aktuelle Situation vor Augen (Heute) und wagen zum Abschluss einen Ausblick in die Zukunft (Morgen). Zum Abschluss können wir noch eine Appell, eine Handlungsaufforderung oder Botschaft in der Gegenwartsform bringen (Profi-Tipp). 

 

Beispiel für eine Stegreifrede:

 

Nehmen wir mal an, Sie sind im Hamburger Hafen an der Peking (Viermastbark im Hamburger Hafenmuseum) und sollen über die Peking eine Stegreifrede halten. Die Rede könnte z.B. so aussehen.

 

Frage: Was fällt Ihnen zum Thema Peking ein?

Antwort: Sehr geehrter Herr .... Sie haben mich gefragt, was mir zur Peking einfällt. Herzlichen Dank für die Frage.

Sie meinen sicher das wundervolle Schiff, was hinter uns am Anleger beim Hafenmuseum liegt. Über die chinesische Hauptstadt Peking kann ich Ihnen wenig sagen.

 

Die Peking war einst der größte Lastensegler der Welt. Sie lief 1911 hier in Hamburg vom Stapel und war auf den ganzen Weltmeeren zuhause. 2020 wurde sie im Rahmen einer großen Rückholaktion von New York zurück nach Hamburg geholt. (Gestern)

 

Heute dient die Peking im Hafenmuseum Hamburg als wichtiger Beitrag, um die Geschichte der Seefahrt sichtbar zu machen. (Heute)

 

In Zukunft ist die Peking ein wichtiger Bestandteil im Hafenmuseum, um vielen Menschen einen Blick in die Geschichte der Seefahrt und den Lebensbedingungen an Bord in den Jahren 1911 bis 1970 zu gewähren. Viele Touristen und Schulklassen werden an der Peking viel Freude haben. (Morgen)

 

Berichten Sie über die Peking. Ein Besuch lässt die Herzen höher schlagen. (Appell bzw. Handungsaufforderung)

Stegreifrede sichtbar machen

 

Wenn wir die Stegreifrede mit der Struktur Gestern - Heute - Morgen auf der Bühne vor Publikum halten, könnten wir mit Positionswechseln arbeiten. Damit wird die Rede für die Zuhörer greifbarer. Sie können die Struktur besser nachvollziehen und sich in die Rede hineinversetzen. Die Aufmerksamkeit wird größer. Die meisten Menschen werden in den wenigsten Fällen eine Rede vor Publikum halten. Das Bild veranschlaulicht, wie die Struktur mit Unterstützung von Körpersprache stärker zur Geltung kommt. Sie starten in der Mitte, nehmen zum Publikum Blickkontakt auf. Sie machen eine Pause. Dann starten Sie Ihre Rede. Wenn Sie den Aspekt Gestern bringen, gehen Sie aus Ihrer Sicht nach Rechts. Kommen Sie zum Aspekt Heute, gehen Sie wieder in die Mitte. Für die Zukunft wechseln Sie aus Ihrer Sicht nach Links. Zum Abschluss wechseln Sie wieder in die Mitte. Das Publikum nimmt Ihre Rede andersrum war (Gestern (links) - Heute (Mitte) - Morgen (rechts). Das Publikum nimmt chronologische Abfolgen gerne von links nach rechts wahr. Um eine gute Wirkung zu erzielen, sollten Sie auf der Bühne mit der Struktur Gestern - Heute - Morgen immer andersherum an die Sache herangehen.

 

Wenn wir diese Struktur im Koffer haben, meistern wir fast jede Stegreifsituation. Es kommt darauf an, dass wir erhobenen Hauptes aus der Geschichte heraus kommen. Es nützt uns nichts, wenn wir wie ein Verlierer dastehen. Andere Blicke sind immer auf uns gerichtet. Sicher gibt es keine 100%ige Sicherheit, alle Situationen zu meistern. Wenn wir unser Bestes geben, haben wir uns im Nachhinein nichts vorzuwerfen. Wie oft sind wir spontan, aber eine halbe Stunde später. Das gleiche kann uns auch in einer Stegreifrede passieren. Wenn wir die richtigen rhetorischen Tools im Koffer haben, sind wir besser vorbereitet. Das Ergebnis wird immer das Bessere sein. 

 

Wagen Sie den ersten Schritt!

 

Wenn Sie Feuer gefangen haben, sich auf unvorbereitetes vorzubereiten. Wenn Sie anfangen nachzudenken, wagen Sie den ersten Schritt. Der erste Schritt ist der Beginn für eine wundervolle Reise durch die Welt der Rhetorik, Reden und Stegreifreden. Fangen Sie an und erleben Ihren Redestolz. Selbst wenn Sie ein geringes Maß an Vorbereitung genießen, ist das besser als völlig unvorbereitet reinzustolpern und sich auf die Nase zu legen. Eine Stegreifrede ist kein Hexenwerk.

 

Jens-Uwe Adler

Redestolz

 

Foto von Jens-Uwe Adler; Ariane Hessenius, Art of Hessenius

 

 

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